wildes Grün an Wortsalat
Impressum, Schlichtungsstelle und Datenschutzerklärung

Kategorien: Cândhûn  -  altes Haus  -  Kräuterküche  -  privater Zauber

Stehst du auf - oder siehst du weg?

Dienstag, 2018-07-17 16:55, Eintrag von Diana
Kategorien: privater Zauber



»Möchten Sie sich setzen?«
»Ähm, oh ja, gerne!« Ungläubig starre ich auf das junge Pärchen, das sich freiwillig, für mich und meinen Sohn, von den Sitzplätzen des überfüllten Regionalzuges erhebt. Kann das wahr sein?
Ich gehöre zu den wenigen Menschen meiner Generation, die keinen Führerschein haben – niemals einen hatten. Daher bin ich Bahnvielfahrerin und die Abenteuer des öffentlichen Nahverkehrs gewöhnt. Normal ist diese Freundlichkeit keineswegs mehr! Ich erinnere mich an meine erste Zugfahrt mit Kind. Im Tragesack vorne habe ich meinen kleinen Sohn, über den Schultern Reise- und die Wickeltaschen, insgesamt drei - in einer Hand die schwere Babyschale. Die einzigen Lebenzeichen der Menschen, die sämtliche Plätze des Großraumwagens besetzen, sind die Unmutsbekundungen mir gegenüber, während ich uns durch den Mittelgang quetsche. Ein Abteil weiter sehe ich einen Schaffner um die Ecke huschen. »Entschuldigung? Könnten Sie mir bitte sagen, wo es noch freie Sitzplätze gibt?«
Er wendet sich nur kurz in meine Richtung und verschwindet dann in das Abteil der Zugbegleiter. »Einen Wagen weiter vorne finden Sie wahrscheinlich meine Kollegin, die kann Ihnen weiterhelfen.«
Wie bitte? Es ist also wahrscheinlich, dass es noch eine Kollegin gibt. Und warum ist sie qualifizierter mir zu helfen, als dieser Mann? Ist sie vielleicht Bodybuilderin? Der Arm mit der Babyschale fühlt sich inzwischen taub an. Ich überlege kurz, wie es mir gelingen könnte, sie wieder vom Boden aufzuheben, falls ich sie fallen lasse.
»Vielen herzlichen Dank, für die überaus freundliche - Auskunft!«
Heute ist es ein zweijähriges Kind, das sechzehn Kilo auf die Waage bringt und trotzdem in die Trage vor meinen Bauch muss, da ich zusätzlich zu dem großen Rucksack noch einen Autokindersitz mitschleppe, der vermutlich das Dreifache der Babyschale von damals wiegt. In der Zwischenzeit konnte ich meine Muskulatur ein wenig anpassen.
Diesmal fragt mich sogar der Schaffner, ob ich Hilfe beim Ausstieg benötige. Ich lehne ab, weil ich bei einer anderen Fahrt aufgrund meiner Naivität fast im Zug bleiben musste. Ich hatte auf eine solche Frage mit ›ja‹ geantwortet, der Zugbegleiter muss sich auf dem Weg zur nächsten Station verlaufen haben, denn ich habe ihn niemals wieder zu Gesicht bekommen.
Nun jedenfalls treffe ich auf hilfsbereite Menschen und darf mich freuen.
In welcher Art und Weise Begegnungen ablaufen, beeinflusst uns stark. Menschen, die viel mehr noch auf Helfer angewiesen sind als vollbepackte Eltern mit Kleinkindern, die in die Ferien fahren, sind Flüchtlinge. Heißen wir sie willkommen oder treten wir noch einmal nach? Welche Auswirkungen hat unser Verhalten auf traumatisierte Menschen, die mit der Hoffnung auf Hilfe in unser Land kommen? 2015 sind wir alle aufgesprungen und haben unsere Plätze angeboten und heute? Was hat sich geändert, dass der öffentliche Diskurs plötzlich von Mitgefühl zu Angst und Hass überspringt? Weshalb müssen tausende im Meer ertrinken, während wir die potenziellen Helfer unter Strafe stellen? Es sind doch Menschen, wie vor drei Jahren auch. Mit Kindern, wie meinem Sohn - Hoffnungen auf ein gutes Leben, wie meine eigenen. Mit einer Vergangenheit, die unsere schlimmsten Vorstellungen davon vermutlich übersteigt. Etwas am eigenen Leib zu erfahren ist die wirkungsvollste Lektion. Wollen wir das? Eine Eskalation, die uns selbst die Erfahrungen von Verfolgung und Angst vor dem eigenen Tod und dem unserer Lieben aufzwingt? Ursprünglich wollte ich über meine kleinen Fort- und Rückschritte berichten. Und ich mag es nicht, den Medienbrei wiederzukäuen, doch ich muss es einmal laut hingeschrie(b)en haben, weil ich stocksauer bin! Ich will zu keiner Gesellschaft zählen, die den Wert von Menschenleben auf einer Skala von null bis medienwirksam misst! Wir wissen, was Fremdenhass und Schweigen bedeutet und was daraus erwächst. Belächeln wir die Entwicklungen nicht, sondern stellen wir uns dem entgegen. Zumindest in dem wir nicht schweigend zusehen!
Ich beschreite weiter meinen eigenen steinigen Weg. Den Menschen, die mir begegnen, möchte ich mit Respekt gegenübertreten, ebenso, wie ich es von der Welt erwarte. Wenn ich jemanden sehe, der gerade viel zu tragen hat, stehe ich für ihn auf. Ich werde nicht tun, als wäre ich blind, um meinen bequemen Sitzplatz zu behalten.